BANNER DER ZEIT
BANNER DER ZEIT Kapitel 1
#23
Veröffentlicht: 30.09.2020
Länge: 6:30
Text: Carsten Schwecke
Das ist der Moment. Am Nachmittag des 11. Mai 1997, in der sechsten Partie, nach dem 19. Zug, verliert der beste Schachspieler der Welt, Geri Kasparov, gegen einen Computer. „Deep Blue“ lautet sein Name. Doch die Geschichte dieses Moments beginnt früher. Viel früher…
Die Welt vor 250 Jahren ist ein angemessen aufregender Ort.
Auf der anderen Seite des Atlantiks wird eine Teeparty vorbereitet und daran getüftelt, sich unabhängig von England u machen. In England tüftelt ein Schotte an der Verbesserung einer Maschine und löst damit aus Versehen die Industrielle Revolution aus. In Frankreich tüfteln zwei Brüder an einem Gefährt, mit dem sie sich bald in die Lüfte erheben wollen. Auf Korsika wird der Familie der Bonapartes ein schmächtiges Söhnchen geboren. Und im rheinischen Bonn arbeitet Maria Magdalena, Gattin eines Kammersängers mit Migrationshintergrund, daran, noch in diesem Jahr ein musikalisches Genie zur Welt zu bringen, das sie – nach dem Opa – Ludwig nennen wird.
Und doch ist Maria Theresia, Kaiserin zu Wien, irgendwie fad zumute. Gut, dass die Erzherzogin von Österreich und Königin von Ungarn, Kroatien, Böhmen und so weiter, einen treuen Tüftler in ihren Reihen weiß.
Wolfgang von Kempelen, im Hauptberuf Hofkammerrat, und im zweiten Leben Erfinder. Bauherr einer mechanischen Sprechmaschine. Und eines mobilen Bettes, mit dem die Kaiserin höchstselbst durch die Gegend geschoben werden kann. Konstrukteur von Brücken, Übersetzer, Zeichner, Poet.
Als er der getrübten Verfassung seiner Kaiserin gewahr wird, kündigt er an, in nur wenigen Monaten eine Aufhellung zu kreieren. Einen Zeitvertreib, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat. Und – es gelingt.
An eine lauen Abend des Jahres 1770 rückt der Hof auf Schloss Schönbrunn ein. Der Tüftler hat zur Präsentation geladen. Die Spiegeltüren öffnen sich und von Kempelen schiebt eine Kiste in den Saal, 90 Zentimeter hoch, 80 Zentimeter tief und 1,20 Meter breit. Auf der Vorderseite hat sie drei Türen und er öffnet die linke und erhellt das Innere mit einer Kerze.
Zum Vorschein kommt ein Räderwerk mit Walzen und Federn. Auch hinter der mittleren Tür sieht es so aus, dazu ein paar metallene Stangen, Hebel und Räder mehr. Die rechte Tür schließlich verbirgt – nicht ganz überraschend, auch so etwas, das wie der Blick in das Innere eines Uhrwerks aussieht. Er schließt die Lade, zieht das Tuch hinunter, das über einem Aufbau ruht. Eine lebensgroße Holzpuppe sitzt da wie an einem Tisch. Mit dunklerer Gesichtsfarbe, orientalischem Gewand, Schnauzbart und Turban schnell als Türke zu erkennen. Und vor ihm, auf dem Tisch, steht ein Schachbrett, die Figuren spielbereit aufgestellt für den Eröffnungszug.
Er habe, so von Kempelen, zum Gefallen seiner Majestät, den ersten Schachautomaten der Welt gebaut. Und ein jeder, der es wage, gegen den anzutreten, solle sich in acht nehmen. Staatsrat Graf Cobenzl wagt es als erster – und gewinnt nicht. Die Puppe scheint zwischendrin zu überlegen, schüttelt den Kopf mit mechanischer Finesse, dann hebt sie ihren linken Arm vom Kissen, greift nach einer Spielfigur und versetzt sie auf ein anderes Feld. Alle 10 Spielzüge holt der Erfinder einen großen Schlüssel aus der Tasche, und zieht die Puppe auf. Als der Automat die gegnerische Dame bedroht, nickt swe Türke zweimal. Beim Schach einmal. Nach einer halben Stunde ist der Staatsrat geschlagen – und die Sensation perfekt.
Ganz Wien redet jetzt über den so genannten „Schachtürken“. Die Kunde von dem wundersamen Automaten rast durch Europa. In Pariser Kaffeehäusern gewinnt der Automat gegen die besten Schachmeister der Stadt. Die Partien erfahren jetzt viel Aufmerksamkeit. In nahezu allen europäischen Hauptstädten spekulieren die Zeitungen über das Wunder. Ist es ein göttlicher Funke? Eine künstliche Intelligenz? Eine Zauberei? Kann es wirklich sein, dass in einem mechanischen Gerät alle menschlichen Spielzüge vorberechnet sind?
Geduldig erklärt von Kempelen in den Jahren danach alle von ihm erfundenen und gebauten mechanischen Wunderwerke. Alle, bis auf den Schachtürken, um den sich ein Geheimnis rankt. Wie ist es möglich, dass eine mechanische Apparatur den menschlichen Geist überflügelt?
Doch dieses Geheimnis nimmt von Kempelen mit ins Grab.
BANNER DER ZEIT Kapitel 2
#24
Veröffentlicht: 03.10.2020
Länge: 6:29
Text: Carsten Schwecke
Der kleine Ludwig aus Bonn ist – vor 250 Jahren - wirklich noch vor Weihnachten zur Welt gekommen und schon ein paar Jahrzehnte der aufregendste Komponist seiner Zeit. Und aus dem kleinen Bonaparte ist derweil ein etwas größerer Napoleon geworden. Feldherr, Konsul, Kaiser. Die beiden begegnen sich nie, aber sie ärgern sich übereinander.
Als die Franzosen Wien erobern beschwert sich Ludiwg van Beethoven bitterlich und notiert: „Grässslich, nichts als Trommeln, Kanonen, Menschenelend aller Art!“. Auch Napoleon selbst, den er einstmals bewunderte, hat seine Gunst nun verloren. Eigentlich sollte seine Dritte eine „Napoleon-Sinfonie“ werden sollen. Jetzt streicht Beethoven den Titel weg und nennt sie „Eroica“.
Wir schreiben das Jahr 1809.
Jenseits des Atlantiks bekommt ein Schauspielerpaar aus Baltimore – was nun in den USA liet - ein zweites Kind, ein dürrer Junge, den sie Edgar nennen. In Wien gibt sich der neue Kaiser die Ehre. Er hat von einem Schachautomaten gehört, an dem selbst die besten Meister gescheitert sind und dessen Geheimnis seit fast 40 Jahren unentdeckt ist.
Napoleon flucht. Napoleon schummelt. Napoleon verliert. Gut, Waterloo, kurz danach, ist noch schlimmer für ihn. Aber trotzdem: Das Spiel der Könige als echter Kaiser gegen eine Maschine zu verlieren, ist wirklich peinlich. Der neue Besitzer des Automaten hat seine liebe Mühe, den größten aller Franzosen zu besänftigen. Denn er hat mit dieser wundersamen Maschine noch so einiges vor.
Er, das ist Johann, Nepomuk Mälzel. Als Tüftler talentiert. Als Erfinder begnadet. Als Kaufmann genial. Nachdem er Napoleon Groll überstanden hat, macht er sich auf den Weg zu einem anderen großen Zeitgenossen – und klopft an die Tür von Ludwig van Beethoven.
Wie ein Handelsvertreter hat er sein Musterköfferchen dabei. Ein Hörrohr für die tauben Ohren. Oder ein Musikautomat mit 259 mechanischen Instrumenten. Eine sprechende Puppe. Ein Panharmonikum für die schönen Töne. Doch es ist eine andere Erfindung Mälzels, die Beethoven in Euphorie versetzt. Mälzel hat das Metronom erfunden. Endlich, so erklärt ihm Ludwig van, werden alle Orchester seine Stücke überall im gleichen, im richtigen Tempo spielen können. Beethoven ist so begeistert, dass er spontan für Mälzel einen kleinen Kanon schreibt, in dem dieser als „Banner der Zeit“ gepriesen wird. M.M. heißt das neue Zeitmaß auf den Notenblättern, Mälzels Metronom - auch wenn dieser später eingestehen muss, dass es eigentlich nicht seine Idee war.
Die Zusammenarbeit der beiden Männer kennt nur Gewinner. Beethoven schreibt für einen Orchesterautomaten, den Mälzel baut und gegen Geld vorführt. Gemeinsam produzieren sie die theatralische Schlachtensinfonie, zur Feier der Niederlage Napoleon Bonapartes – nicht beim Schach, sondern auf dem Felde. In einer Zeit ohne Foto, Film und Facebook bekommen die Zuhörenden so musikalisch einen Eindruck vom Kriegstreiben vermittelt.
Das Kabinett des Erfinders wird ein Lieblingsort Beethovens. Die Werkstatt des Kaiserlichen Hofkammermaschinisten in Schloss Schönbrunn. Eine Kammer, vollgestopft mit mechanischen Wunderwerken: Flötenuhren, künstlichen Gelenken und anderen zusammenklappbaren Apparaten. Und der kleine Kanon zu Ehren Mälzes schafft es sogar in eine große Sinfonie, die achte. Wenn man genau hinhört, sind hier die fröhlichen Töne „Ta Ta Ta, mein lieber Mälzel“ gut herauszuhören.
Als Beethoven stirbt, hat Mälzel Wien schon hinter sich gelassen. Mit all seinen Maschinen – allen voran dem „Schachtürken“ hat er ein Schiff bestiegen und reist nach Amerika. Dort wird er sein Ende finden, in einem nassen Grab auf dem Grund des Ozeans.
BANNER DER ZEIT Kapitel 3
#25
Veröffentlicht: 06.10.2020
Länge: 6:09
Text: Carsten Schwecke
New York, Baltimore, Philadelphia. Mälzel ist der Mann der Stunde in den Theatersälen und Varietees. Das Gesprächsthema am Broadway. Mag der „Schachautomat“ auch schon im Rentenalter sein, er ist der Höhepunkt jeder Vorführung. Und Mälzel ist ein Kaufmann ohne Berührungsängste. Als die Gebrüder Walker aus New York ihm das Ding nachbauen wollen, bestellt er sie zu sich, schlägt ihnen vor, das Geheimnis mit ihnen zu teilen, und fortan mit zwei Schachwundern parallel durch Nordamerika zu ziehen.
Doch je größer der Erfolg, desto mehr wachsen die Zweifel. Eines Abends sitzt in einem Theatersaal in Boston ein junger bleicher Mann, der sich vorgenommen hat, das Rätsel ein für alle Mal zu lösen. Er ist ein genauer Beobachter, ein Reporter für den „Messenger“, er ist Edgar, Edgar Allan Poe. Er besucht so lange die Vorstellungen, bis er sich in seinem Verdacht sicher ist. Und veröffentlicht das Essay „Maelzels Chess Player“.
Wie bei einem Plädoyer vor Gericht wägt er alle Möglichkeiten ab, baut eine schlüssige Argumentation auf und mündet schließlich in einer furiosen Folgerung: Im Schachautomaten muss ein Mensch versteckt sein. Denn: Mälzel öffnet die drei Türen auf der Vorderseite niemals gleichzeitig. Ein in der Kiste verborgener Schachmeister hätte also die Möglichkeit, auf einer fahrbaren Bank gerade so hin und her zu rutschen, dass er nicht gesehen wird. Den Stand der Figuren könne er aus dem Inneren anhand von Magenetn sehen. Die Puppe bewege er mit Seilzügen. Und die Partien müssten auch deshalb nach 30 Minuten enden, weil Licht und Luft im Inneren knapp würden. Echt, so Poe, sei am „Schachtürken“ nur der Name.
Als bei einer der nächsten Vorstellungen aus dem Publikum „Feuer, Feuer“ gerufen wird, um den Menschen im Automaten ans Freie zu bringen, weiß Mälzel, dass die Erfolgsgeschichte ein Ende hat. Also sucht er neue Märkte, Havanna, und andere Orte in Südamerika, an denen man Zeitungen aus den USA nicht liest. Und ja, er wird begleitet von einem schmalen Mann aus dem Elsass, Schachmeister, Freund und Verursacher des ganzen Zaubers.
Bis sie 1838 das Glück verlässt. Mälzel stirbt nach kurzer Krankheit. Der Einfachheit halber begräbt man ihn mit einer Kugel am Bein auf dem Grund des Pazifischen Ozeans vor Venezuela.
Edgar Allen Poe ist das gerade auf dem Höhepunkt seines Schaffens angekommen. Seine düsteren Erzählungen rund um Raben, Frösche, schwarze Katzen und blutrünstige Morde liefern später, als das bewegte Bild erfunden ist, Stoff für über 300 Filme.
Von Kempelen und Maria Theresia, Napoleon, Beethoven und Mälzel, Edgar Allan Poe. Der „Schachtürke“ verbindet sie miteinander – und bleibt als einziger übrig. Und verbrennt 1854 bei einem Feuersbrunst im Museum von Philadelphia.
Von da an dauert es noch einmal rund 100 Jahre, bis wirklich der erste Schachautomat erfunden ist. Und weitere 40, bis an diesem Tag im Mai des Jahres 1997, der Computer den besten Schachspieler der Welt besiegt. Falls, also falls das nicht auch irgendwie getürkt war.
BANNER DER ZEIT Epilog
#26
Veröffentlicht: 09.10.2020
Länge: 3:17
Text: Carsten Schwecke
Irgendwann auf der Strecke zwischen dem großen Brand in Philadelphia und dem Duell Kasparov gegen „Deep Blue“, schreibt John Lennon den Song „I am the walrus“ –Ich bin das Walross. Darin gibt es einige Textzeilen, die ohne den Konsum von Rauschmitteln vermutlich gar nicht verstanden werden können. Zum Beispiel „Ich sitze auf einem Cornflake“ oder „Ich bin der Eiermann“.
Aber eigentlich geht es – wen wundert es - vor allem um das Walross. „Das Walross und der Zimmermann“, das ist der Titel eines ironischen Gedichts von Lewis Carrol aus dem Jahr 1871, das hier Pate stand. Darin spazieren ein Walross und ein Zimmermann am Strand entlang. Mit schönen Worten gelingt es ihnen, eine ganze Kolonie Austern auf den Sand zu locken und sie in eine Snack-gerechte Ausgangslage zu befördern. Zu diesem Gedicht gibt es eine ganze Menge Deutungen, in denen das Walross wahlweise als Metapher für den Buddhismus, die USA oder den Kapitalismus steht. John Lennon hat später einmal in einem Interview eingestanden, er habe Carrols Gedicht falsch verstanden. Eigentlich habe sein irrer Song „I am the Carpenter“ heißen müssen, denn der ist ja eigentlich der Gute, das Walross der Fiesling.
Das Gedicht stammt aus „Through the Looking Glass“, der Fortsetzung zu „Alice im Wunderland“. Darin bekommt es Alice mit einer ganzen Reihe illustrer Figuren zu tun.
Hinter den Spiegeln trifft sie auch auf Schachfiguren, die überlebensgroß werden. Eine äußerst pedantische und im ganzen nicht sehr nette schwarze Königin. Einen schwarzen König, der durch Passivität auffällt, und die meiste Zeit auf einem Baum verschläft. Eine weiße Königin, die zwar sehr vornehm, aber auch ziemlich dumm erscheint. Und ein weißer König, um dessen Krone sich ein Löwe und ein Einhorn eine Balgerei liefern.
Am Ende des Beatles-Songs „I am the Walrus“ wird einem jungen. bleichen Mannes gedacht, und daran, wie ihm der Hintern versohlt wurde. Sein Name ist Edgar Allan Poe.
BANNER DER ZEIT
Die Musik zur Serie
#27
Veröffentlicht: 14.10.2020
Länge: 3:30
Text: Carsten Schwecke
"Spitze"
"Superb"
"Eine irre Story"
"Was für ein Fundstück"
"Hochinteressant"
"Überragend"
"Total spannend"
"Überraschend"
"Eine Meistererzählung"
