keckecast #85

Telerevolutia: Nistor


Im Sommer schon ist der Stacheldraht überrannt worden. Im November fiel die Mauer. Und auch jetzt und hier, auf den winterlichen Straßen Bukarests, erhebt sich die Stimme der Freiheit. Das Protokoll einer Revolution in zwei Teilen. 
 
Der gleiche Platz, neun Jahre zuvor. Vor dem Präsidentenpalast tänzelt eine junge Frau über das Pflaster. Sie ist 23, gerade erst hat sie ihr Studium in Englisch und Französisch abgeschlossen, mit einer Arbeit über den französischen Kinopoeten Jean Cocteau.


In diesem Sommer hat Ceaușescu dem Staat ein hartes Sparprogramm verordnet, um die Pleite zu verhindern. Auch der staatliche Rundfunk wird drastisch verkleinert. Radiosender werden aufgelöst. Es gibt jetzt nur noch ein Fernsehprogramm, das werktags zwei Stunden, an Wochenenden vier, die immer gleiche Geschichte sendet: Der heroische Aufstieg des Diktators und seiner Familie.


Genau dort, im Büro des letzten verbliebenden Fernsehsenders Rumäniens, wird Irina arbeiten. Gerade erst hat sie die russische Kinderserie „Hase und Wolf“ übersetzt. Die Zensoren lassen eine Szene herausschneiden, in der der Hase mit einem roten, einem gelben und einem blauen Luftballon auftritt. Sie wittern eine geheime Botschaft, es sind die rumänischen Nationalfarben. So geht es Tag für Tag in Irinas Leben. Bis sie ein paar Jahre später ein unglaubliches Angebot erhält.


Das gelbe Auto russischer Bauart nähert sich im Schritttempo dem Schlagbaum. Der Fahrer hat angehalten, kurbelt das Fenster herunter. „Aussteigen! Kofferraum aufmachen!“ befiehlt der Grenzsoldat. Hier haben sie viel Erfahrung mit Schmugglern. Zigaretten. Alkohol aus dem Westen. Pornographie.

Im Kofferraum stehen zwei Umzugskisten. Der Soldat öffnet den Deckel, und erkennt schnell, was sich hier stapelweise, vielleicht sind es 50 oder 80 Stück, drin befindet. VHS-Kassetten, Filme aus dem Westen, die hier verboten sind. Der Fahrer nimmt eine, drückt sie dem Soldaten in die Hand. „Bloodsport“ mit einem Jean Claude van Damme. Es ist seine Bezahlung. Er winkt seinem Kollegen, der nun die Schranke öffnet. Das gelbe Auto passiert die Grenze. 


Teodore ist der König dieses Schwatzhandels geworden. Und er ist es auch, der Irina Nistor ein Angebot macht, das gefährlich ist, aber zu dem sie nicht Nein sagen kann. Wenn sie ihre Tätigkeiten im Büro der Fernsehstation fertig hat, geht sie Tag für Tag hinüber zu Teodores Haus, betritt den Keller und macht sich an die Arbeit.


Am Anfang soll sie nur die illegal eingeführten Filme aus Amerika übersetzen. Dann erscheint es einfacher, wenn sie sie auch direkt vertont. Drei, vier, manchmal fünf Filme schafft sie in einer Nacht. Irina spricht die Männer, die Frauen, die Kinder, die Tiere, die Zeichentrickfiguren.


Irina ist Eddie Murphy. Irina ist Rambo. Irina ist James Bond, Arnold Schwarzenegger, Roger Rabbit, Luke Skywalker und Darth Vader, Irina ist der Film in Rumänien. Am Ende hat sie in 3.000 Filmen allen Figuren ihre Stimme gegeben, sogar E.T..


Wenn eine Kassette fertig ist, wird sie in Teodores Haus kopiert, dann nochmal kopiert, und die Kopien weiterkopiert. Der Schwarzhandel blüht in den Kofferräumen kleiner Fahrzeuge gelangen sie in die letzten Winkel des Landes. Zu den 20 Millionen Rumänen, die Gefangene in ihrem eigenen Land sind.  

In den Plattenbaute von Bukarest, den Hinterhöfen in der Walachei, den Wohnsilos in Temesvar, den Dorfsälen irgendwo in Siebenbürgen kommen sie an. Freitags- oder Samstagsabends kommen sie zusammen, ganze Familien. Nachbarschaften, Freundeskreise, Alt und Jung, manche Wohnungseigner nehmen sogar Eintritt. So refinanziere sie den Kauf des Videorekorders für 55T Ley, so viel wie ein Neuwagen.


Auf zu kleinen Röhrenfernsehern gibt es, in durch die vielen Kopien, schlechter Bildqualität, die Blockbuster der letzten Jahre zu sehen. Irina Nistor spricht sich ins das Gedächtnis einer ganzen Generation. In der grauen, totalitären Welt, öffnet sich ein Fenster in den Westen, in ein verheißenes Land. Sie inhalieren die Mode, die Häuser, die Einstellungen, die Worte. Eine Welt. In der der Menschen frei leben können, in der Maschinen durch die Zukunft geschickt werden, in der Menschen sich aus freien Stücken verlieben, oder in einem Diner sitzen und über vorgetäuschte Orgasmen plaudern können, in der sie lustig sein können oder ernsthaft, eine Welt des Turbo-Kapitalismus oder der Kampfflieger, des Rausches. In der Menschen ohne Restriktionen, ohne die Härte des Alltags, ohne Hunger und Repressionen leben können. Eine Welt, in der ein chancenloser Einzelkämpfer doch zurückkommt, um seine Freunde zu retten.


Die Behörden wissen alles. Securitate, die teuflische Geheimpolizei Ceaușescus, weiß alles. Sie überwachen Irina und den Schwarzmarkt seit Jahren, mischen sogar mit. Aber am Ende wollen auch sie am Wochenende statt des reglementierten Staatsfernsehens einen Blick auf eine goldene Welt werfen – und schreiten nicht ein.

Am Ende dieses Jahrzehnts wird diese Generation, die mit Chuck Norris und der Traumfabrik Hollywood aufgewachsen ist, den Diktator stürzen. Irina wird bleiben. Sie ist dabei, als nach der Wende eine neue Film- und Fernsehlandschaft entsteht.


Für die Menschen aber blei sie die Stimme aus der Neuen Welt.

Irina Nistor, die Stimme der Filme.

#85

Staffel: 4

Veröffentlicht: 13. Januar 2022

Länge: 08:52

Text: Carsten Schwecke

Musik: Yann Tiersen, Gabriel Yared




"Packend"


"Eine so berührende Folge"


"Gänsehaut"

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