keckecast #84

Telerevolutia: Malutan

Im Sommer schon ist der Stacheldraht überrannt worden. Im November fiel die Mauer. Und auch jetzt und hier, auf den winterlichen Straßen Bukarests, erhebt sich die Stimme der Freiheit. Das Protokoll einer Revolution in zwei Teilen. 
 
Bukarest, 22. Dezember 1989

Die ganze Stadt ist auf den Beinen, Revolution, Umsturz liegt in der Luft.

11:20

Der Pilot eines Militärhubschraubers, Oberstleutnant Vasile Maluțan, erhält vom Generalleutnant den Befehl, zum Palastplatz zu fliegen. Dort soll er den Präsidenten aufnehmen. Beim Überfliegen des Palastplatzes findet er aber keine Landemöglichkeit vor. Der Platz ist voller Menschen, die bereit sind, das mächtige Gebäude zu stürmen.   

11:44

Der Hubschrauber landet auf der Dachterrasse und wartet dort mit laufendem Motor.

Maluțan erklärte später „Dann kam Stelica, der Kopilot, zu mir und sagte, es würden Demonstranten auf die Terrasse zukommen. Dann kamen die Ceaușescus heraus, beide praktisch getragen von ihren Bodyguards […] Sie sahen aus, als wären sie in Ohnmacht. Sie waren weiß vor Schreck. Einer der Vizepräsidenten und  der Sekretär des Zentralkomitees liefen gleich hinter ihnen. Sie alle, und ein anderer Securitate-Offizier drängten sich auf die vier Plätze hinten. […] Als ich Ceaușescu hereinzog, sah ich die Demonstranten über die Terrasse laufen. […] Da war nicht genug Platz, Elena Ceaușescu und ich waren zwischen den Sitzen und der Tür eingequetscht, […] es waren nur vier Passagiere vorgesehen […] wir hatten sechs.“

12:08

Der überladene Hubschrauber hebt ab, und macht sich auf den Weg zur zur Zweitresidenz des Diktators in Snagov.

12:20

Ankunft an der Residenz. Nikolai Ceaușescu nimmt den Piloten Maluțan mit in die Präsidentensuite. Dort befiehlt er ihm, zwei weitere Helikopter und Soldaten als Begleitschutz anzufordern. Außerdem einen weiteren Dauphin nach Snagov anzufordern. Maluțans kommandierender Offizier antwortet am Telefon: „Es gab eine Revolution […] Du bist auf dich allein gestellt. […] Viel Glück!“.

Maluțan sagt dem Diktator, der zweite Helikopter wärme jetzt auf und sie müssten bald weiter. Er könne aber nur vier der sechs Leute mitnehmen. Die zwei Mitglieder des Politbüros bleiben zurück. Ceaușescu befiehlt nach Titu zu fliegen. Sie sind nahe Titu, als in Pilot Malutan sich das Gefühl breit macht, den Diktator schnellstmöglich loswerden zu wollen. Er versucht es mit Einschüchterung. Vor Titu lässt er den Hubschrauber immer wieder auf- und niedersteigen. Nur so, erläutert er Ceaușescu, hätten sie eine Chance, der feindlichen Flugabwehr zu entkommen. Die List geht auf: Rumäniens unnachgiebiger Diktator gerät in Panik und befiehlt dem Piloten, umgehend zu landen 

13:30

Der Hubschrauberpilot setzt das Präsidentenpaar in einem Feld neben der alten Nationalstraße 7 ab, die nach Pitești führt, und erklärt seinen vier Passagieren, dass er nichts mehr für sie tun kann.

Die zwei Leibwächter der Geheimpolizei Securitate laufen zum Straßenrand und winken vorbeifahrende Autos heraus. Es gelingt ihnen, zwei Fahrzeuge zu kapern, eines vom Amt für Forstwirtschaft und einen roten Dacia. Sein Besitzer ist der Dorfarzt. Um nicht in irgendetwas mit hineingezogen zu werden, täuscht der Doktor nach kurzer Zeit der Fahrt einen Motorschaden vor.

14:15

Ersatz ist schnell gefunden. Ein schwarzer Dacia wird gestoppt. Er gehört einem Fahrradmechaniker. Der bringt sie bis nach Tîrgoviște. Der Fahrer des Wagens, Nicolae Petrișor, überzeugt sie, dass sie sich im Pflanzenschutzzentrum am Rande der Stadt sicher verstecken können.

15:00

Die Ceaușescus betreten das Pflanzenschutzzentrum und werden sofort zu eine Raum geleitet, in dem sie sich verstecken sollen. Als sie drin sind, geht die Tür zu, der Schlüssel wird umgedreht. Der Diktator und seine Frau sitzen in der Falle.

15:30

Die lokale Miliz holt sie ab und bringt sie aufs Revier gebracht. Zwei Generäle geben derweil über das Fernsehen einen Befehl an die Soldaten in der Region: Verhaftet die Ceaușescus. Sofort!

18:00

Einige Soldaten betreten eher zufällig das Revier. Eingesperrt finden sie hier das Präsidentenpaar und nehmen sie mit. Sie bringen den Präsidenten und seine Frau in die Tîrgovișter Kaserne. Der Garnisonschef erhält den strikten Befehl, sie lebend keinem anderen zu übergeben.

19:30

Das rumänische Fernsehen verkündet, die Ceaușescus sind festgenommen worden. Der Pilot des Flucht-Hubschraubers, Malutan, und der Offizier, der die Verhaftung vornahm, werden gezeigt und als Helden des Volkes inszeniert. Wenig später sind beide tot, Todesursache unbekannt.

24. Dezember

Der Kern der „Rettungsfront“ um Ion Iliescu, entscheidet sich dafür, mit den Ceaușescus kurzen Prozess zu machen. Hierzu wird ein Dekret zur Errichtung eines außerordentlichen Militärtribunals unterzeichnet und mit der Organisation des Verfahrens begonnen.

25. Dezember

13:00

Der Generalmajor, der das geheime Vorhaben umsetzen soll, trifft in Begleitung der Militärs, die Richter und Ankläger im Prozess sein sollen, in der Kaserne ein.

13:10

Der Schauprozess beginnt.

14:39

Der Schauprozess endet nach 90 Minuten. Ein Oberst spricht das Urteil. Verurteilt für den Völkermord durch Hunger, Kälte, fehlende medizinische Versorgung. Ein Genozid an 64.000 Menschen. Verurteilt für die Unterwanderung der  Staatsmacht, der nationalen Ökonomie.

14:50

Ohne Wahrung einer Frist, ohne Berufung, wird das Urteil vollstreckt. Der Diktator stirbt im Schneetreiben vor den Toren Bukarests durch einen gezielten Kopfschuss.

27. Dezember

19:30

Das Video, das die Hinrichtung zeigt, wird im Fernsehen ausgestrahlt. Mehrfach, in verschiedenen Fassungen. Sonst hätte es niemand geglaubt. Rumänien ist frei. Rumänien hat ein neues Wort: Telerevolutia. Die Revolution, die live im Fernsehen zu sehen ist. Die von den Bildern angeheizt, beeinflusst wird.

Seit die Aufständischen am 22. um 13:00 den Sendebetrieb übernommen haben und verkündet haben, dass Ceaușescu geflohen ist, sind die Massen ununterbrochen im Fernsehen zu sehen. Wie sie feiern. Wie sie kämpfen. Wie sie frei sind nach 30 Jahren.

19:45

In der Menge auf dem Platz vor dem Präsidentenpalast steht Irina. Niemand scheint sie zu kennen. Dabei kennen Irina alle. Alle, die jetzt den Diktator gestürzt haben.