keckecast #56

Jules Verne


Es ist der 24. Mai 1863. Aufgeregt eilt Professor Lidenbrock nachhause. Unterm Arm ein Buch, nach dem er lange gesucht hat. „Skáldskaparmál“ von Snorri Sturluson. Und damit beginnt eine wahrhaft phantastische Geschichte, die 150 Jahre später in der Realität Russlands enden wird.


Snorri Sturloson? Was klingt wie eine Romanfigur aus der Welt der Wikinger, ist tatsächlich die einzig reale Person in dieser Geschichte. Snorri ist so eine Art oberster Chronist der Isländer. Zwischen 1179 und 1241 zeichnet er Sagen und Mythen der nordischen Völker auf und betätigt sich als Politiker. Sein Buch ist der Anfangspunkt einer anderen Geschichte, der Geschichte von der „Reise zum Mittelpunkt der Erde“, von Jules Verne. Erschienen im Jahr 1864.


Denn aus eben diesem Buch, das der fiktive Professor aus Hamburg aufgestöbert hat, fällt in Vernes Erzählung ein kleiner Zettel, der in Runen festhält, wo genau der Einstieg ins Innere der Erde zu finden ist. Nachdem Axel, der Neffe des Professors, die Krakelei durch einen unerwarteten Geistesblitz dechiffriert hat, beginnt die Reise ohne lange Vorbereitungen.


Und natürlich, der Einstieg ins Innere der Erde findet sich auf Island.

Es gehört zur Logik eines phantastischen Romans, dass die Protagonisten Dinge tun, die man im realen Leben besser meiden sollte. Und so klettern der Professor aus Hamburg, sein in dessen Tochter heimlich verliebter Neffe und ein wortkarger Insulaner namens Hans an einem Juni-Tag des Jahres 1863 in den Kamin eines erloschenen Vulkans.


Den Vulkan Snæfellsjökull, was so viel bedeutet wie Schneeberg, gibt es wirklich, die Welt darunter vielleicht eher nicht. In einer Tiefe von 12 Kilometern findet das kernige Trio Wälder und ein Meer, längst auf der Erde ausgestorbene Fabelwesen und die Knochen eines dänischen Poeten, der einst den Zettel mit den Reiseinformationen in Runenform im Buch vergaß.


Nachdem sie mit einem Floss einen stürmischen Ausflug bis unter die Insel Großbritannien unternommen haben, verlassen sie die Welt wieder, indem sie sich von einem aktiven Vulkan zurück auf die Obererde schleudern lassen. Und werden durch den Ätna nach Bella Italia gespuckt.


So phantasievoll die Reiseerzählung auch ist. Selbst für einen Jules Verne könnte es etwas aufgebauscht geklungen haben, was sich rund 100 Jahre später in der wirklichen Welt ereignete.

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Zeit des Kalten Krieges. Beinahe bei allem versuchen sich Russen und Amerikaner gegenseitig zu übertreffen. Sei es die Zahl eingeschleuster Spione, Goldmedaillen bei Olympischen Spielen, die Eroberung des Weltraums oder der technische Fortschritt. Und so kommt es ab 1970 zu einem besonders bizarren Duell der Supermächte.


Ob inspiriert von Jules Verne oder nicht, die Amerikaner fangen jedenfalls an. In Oklahoma beginnen sie unter dem Projektnamen „Bertha Rogers“ ein Loch zu graben, natürlich das tiefste, das die Menschheit je gesehen hat. Bei 9.584 Metern Tiefe stoppen die Bohrer und es ist Schicht im Schacht.


Das kann die UdSSR natürlich nicht auf sich sitzen lassen. 160 Kilometer nordwestlich von Murmansk, auf der Halbinsel Kola, graben sie ihr eigenes Loch. Ob Zufall oder nicht, es ist genau der Tag, an dem Jules Vernes Roman beginnt, der 24. Mai 1970.


Bei einer Tiefe von 3000 Metern finden sie Mondgestein. Auf 6000 Metern sogar Gold. Und als der eiserne Vorhang schon etwas durchlässiger geworden ist, bohren die Sowjets immer noch. Im Jahr 1989 erreichen sie Tiefenmarke von 12.262 Metern. Und haben es damit nicht nur den Amerikanern gezeigt, sondern auch das tiefste Loch der Erde gegraben.


Dort unten ist es reichlich warm und während auf der Erde gerade der Ostblock zerfällt, findet man unter ihr einen Hohlraum. 1000 Grad Celsius werden dort gemessen, der Bohrer dreht ins Leere. Also werden eine Kamera und ein Mikrofon hinabgelassen. Die Kamera gibt den Geist auf, aber das Mikrofon nimmt für kurze Zeit auf. Dr. Dimitri Azzakov, der Leiter der Kola-Bohrung SG-3, glaubt in der Aufnahme, die Stimmen von Millionen Menschen zu hören, die sich schmerzvoll winden. Kurzum: Die Russen haben den Eingang zur Hölle gefunden, diese phantastische Geschichte wird nun ein urbaner Mythos.


Über einen norwegischen Lehrer und einen US-amerikanischen Kabelsender gelangt diese Geschichte in die Hände eines Fernsehpredigers, der die Story immer wieder erzählt und so in den ganzen USA verbreitet.

1992 machen die Russen einen Deckel auf die Hölle, 20 Jahre später reißen sie den Bohrturm ab. Das verwaiste Forschungsgelände aber gibt es bis heute auf der Kola-Halbinsel.


Der Kalte Kriege ist vorbei. Und bei der Beendigung spielte ein Ort eine besondere Rolle, den auch schon Jules Verne beschrieb. Der amerikanische Präsident und der Generalsekretär der KpdSU trafen sich sozusagen in der Mitte. In Reykjavik, auf Island.

#56

Staffel: 3

Veröffentlicht: 24. Mai  2021

Länge: 8:18

Text: Carsten Schwecke

Musik: Vangelis




"Grandios"


"Hoffentlich hält der Deckel"


"Diese Folge ist ein echtes Highlight"

Feedback

Du siehst heute wirklich bezaubernd aus. 


Siehst du, Feedback kann etwas sehr Schönes sein. Jedenfalls Danke für Deine Rückmeldung und noch viel Freude beim keckecast. 

Etwas in den Hut werfen